Unsere Hilfe für die Ukraine:«Wir haben nicht tatenlos zugesehen»
Aufnahme und Versorgung Ukrainischer Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener mit hämato-onkologischen Erkrankungen in der Schweiz
Jeanette Greiner
Präsidentin Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie SSPHO
Einleitung
Am 24. Februar begann die Russische Invasion in die Ukraine mit tausenden von Toten und Verletzten und Millionen von Flüchtlingen. Kritische zivile Infrastrukturen werden attackiert und zerstört, darunter mehr als 250 Gesundheitseinrichtungen, eine angemessene medizinische Versorgung wird unmöglich. Es trifft alle Menschen. Ganz besonders vital aber sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit einer onkologischen oder hämatologischen Erkrankung betroffen, welche zeitgerecht diagnostiziert und behandelt werden müssten, um ihre mehrheitlich guten Heilungschancen nicht zu gefährden. Der Krieg hat deren Behandlung abrupt unterbrochen, bei 1400 onkologischen Neudiagnosen im Jahr ist das Leben tausender Ukrainischer Kinder und Jugendlicher bedroht. Die Versorgungsketten sind unterbrochen, in den wenigen noch funktionalen Spitälern erfordern die regelmässigen Bombardierungen und Bombenalarme zudem die Verlegung der Patienten in die besser geschützten Untergeschosse, eine zusätzliche Bedrohung für immunsupprimierte Patienten.
International koordinierte Antwort auf die akute Notlage
Die Spitäler, Nicht-Regierungs-Organisationen und Gesundheitsbehörden reagieren schnell, in kürzester Zeit steht ein Konzept, die onkologischen Kinder und ihre Familien aus den umkämpften Gebieten zu evakuieren, mit dem Ziel, die notwendige medizinische Betreuung ausserhalb des Landes wiederaufzunehmen und damit ihre kurativen Chancen zu wahren. Was unspektakulär tönen mag, ist in der Realität ein gigantisches Unternehmen, das generalstabsmässige Führung und Koordination erfordert, sollen die Aktionen nicht zum Desaster werden. Akut mussten mehr als 1000 an Krebs erkrankte Kinder und Jugendliche die Ukraine verlassen können. Allein die Transportlogistik zum Teil schwerkranker Patienten stellt eine enorme Herausforderung dar. Zudem sind die Patienten nicht allein, sondern in aller Regel begleitet von der Mutter, oft auch einer Grossmutter und Geschwistern. Die Väter dürfen nicht ausreisen.
SAFER Ukraine – Supporting Action for Emergency Response in Ukraine – heisst die einzigartige Initiative, welche dank der vorbehaltlosen Zusammenarbeit auf der Basis der existierenden, bestens etablierten internationalen, nationalen und regionalen Netzwerke der Pädiatrischen Hämatologie und Onkologie (PHO) in ganz Europa und den USA Unglaubliches erreicht hat.
Innerhalb von Stunden ist unter der Führung von St. Jude Global (Sparte des St. Jude Children’s Research Hospitals in Memphis, USA) eine Kommandozentrale aufgebaut worden, von der aus rund um die Uhr die Evakuationen in 15 europäische Länder, die USA und Kanada in mehr als 200 kinderonkologische Zentren koordiniert werden.
Ukraine
Gleichzeitig hat die Tabletochki Foundation, eine Ukrainische humanitäre Stiftung, die Organisation der Evakuation der Patienten und begleitenden Angehörigen aus den am meisten umkämpften
Gebieten nach Lviv im Westen der Ukraine übernommen. Die Logistik des Transports wird erschwert durch die Flüchtlingsströme, die Gefahr russischer Angriffe und fehlendes medizinisches Personal zur Begleitung instabiler Patienten.
In Lviv werden die Patienten in eine spezialisierte Kinderklinik aufgenommen, stabilisiert und ihre diagnostischen und therapeutischen Bedürfnisse erfasst. Die Krankenakten – alle in Ukrainisch oder Russisch - werden vervollständigt und an das umgehend aufgestellte Übersetzungsteam in der St. Jude Zentrale weitergeleitet. Die fachkompetenten Übersetzer arbeiten Tag und Nacht, um den aufnehmenden Kliniken die vorhandenen Dokumente in Englisch zur Verfügung stellen zu können.
Polen
Von Lviv aus wird die Weiterreise nach Polen organisiert. 2 Tage nach Kriegsbeginn erklärt Polen die landesweite Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit einer Krebs- oder Bluterkrankung und garantiert die medizinische und psycho-soziale Versorgung.
In enger Zusammenarbeit von SAFER Ukraine mit der polnischen Regierung, der polnischen Fachgesellschaft für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie (PSPOH) und der polnischen Herosi Stiftung kann ein Hotel im Süden Polens nahe der Grenze zur Ukraine zu einem Triage-Zentrum, genannt Unicorn-Clinic, umgenutzt werden. Die Teams setzen sich aus polnischen und ukrainischen Kinderonkologen, Pflegefachpersonen, Psychologen, Sozialberatern, Freiwilligen und Vertretern von St. Jude Global zusammen. In Konvois kommen die Patienten aus Lviv in der Unicorn-Clinic an, erhalten dort medizinische und psycho-soziale Betreuung, Unterkunft und Verpflegung sowie Unterstützung in Fragen der Immigrationsformalitäten des Landes, in das sie evakuiert werden sollen.
Sehr kranke Patienten werden umgehend in ein kinderonkologisches Zentrum in Polen verlegt. Stabilere Patienten bleiben maximal 72 Stunden in der Unicorn-Clinic, bis sie in das zugeteilte Land weiterreisen.
Internationale Kollaboration – nationale Koordination
Die Information, welche Länder welche Ressourcen verfügbar haben und Patienten zur Weiterführung der onkologischen Behandlung aufnehmen können, wird von St. Jude Global fortlaufend erhoben und aktualisiert.
Die Vorgaben, welche ein Land dafür erfüllen muss, sind klar umrissen:
- Benennung eines nationalen Koordinators als verbindliche Ansprechperson für die internationale Koordination, erfahren und vertraut mit dem nationalen PHO System
- Gewährleistung der bedarfsgerechten medizinisch-pflegerischen Versorgung der Patienten
- Organisation und Finanzierung des Transports von Polen ins Gastland
- Bereitstellung von Unterkunft und Verpflegung
- Verfügbarkeit von Dolmetschern
- psycho-soziale Unterstützung der ganzen Familie einschliesslich der Kontakte zu den Migrationsämtern
Die Planung und Organisation der Ausreise ins definitive Zielland erfolgt in direkter Zusammenarbeit der Mitarbeiter von SAFER Ukraine mit den nationalen KoordinatorInnen, welche jeweils in ihrem Land die Organisation und Koordination des gesamten Aufnahmeprozesses verantworten. In der Schweiz hat diese Aufgabe die Fachgesellschaft für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie, die SSPHO, übernommen.
Europa
Bis Mitte Mai sind auf diese Weise über 1000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit einer hämato-onkologischen Erkrankung aus dem Kriegsgebiet evakuiert und über die Unicorn-Clinic in insgesamt 200 kinderonkologischen Zentren aus 15 europäischen Ländern entsprechend ihrer Kapazitäten und Ressourcen aufgenommen worden.
Innerhalb einer Woche nach Kriegsbeginn haben die EU wie auch die Schweiz sofortigen Schutz und legalen Status für die Ukrainischen Kriegsflüchtlinge und damit auch die Versicherungsleistungen für deren medizinische Versorgung garantiert.
Schweiz
Am 18. März sind die ersten 22 Ukrainischen Patienten mit ihren Angehörigen in der Schweiz gelandet, bis heute sind nochmals so viele über die internationale Koordination und die Unicorn-Clinic evakuiert und entsprechend den Kapazitäten und Möglichkeiten auf die neun kinderonkologischen Kliniken in der Schweiz sowie ein weiteres Kantonsspital mit einer kinderonkologischen Abteilung verteilt worden. Für elf Patienten wurde der Transport durch die REGA übernommen, da der Gesundheitszustand einiger Patienten die Reise mit Bus oder Linienflug nicht zuliess. Weitere 30 Patienten und ihre Familien sind durch private Initiativen in die Schweiz gekommen und über die nationale Koordination einem geeigneten kinderonkologischen Zentrum zugeteilt worden.
Das Spektrum der hämato-onkologischen Diagnosen und medizinischen Bedürfnisse ist breit und reicht von Neudiagnosen über Patienten unter aktueller Chemo- und/oder Radiotherapie oder anstehender SZT zu solchen, welche bereits in der Nachsorge sind. Auch Patienten, für die keine Aussicht auf Kuration mehr besteht und die dementsprechend ein palliatives Setting benötigen, sind darunter.
Gemessen an ihrer Grösse hat die Schweiz im internationalen Vergleich mit bisher 70 Patienten eine ausserordentlich hohe Zahl Ukrainischer Kinder und Jugendlicher mit einer Krebserkrankung aufnehmen können. Dies war und ist nur möglich durch die stringente zentrale nationale Koordination und das vorbehaltlose Engagement und die enge Zusammenarbeit aller involvierter Personen und Organisationen:
- die St. Jude Global und SAFER Ukraine Teams in der Ukraine, Polen und in Memphis
- die SSPHO als nationale Koordinatorin
- die kinderonkologischen Zentren der Schweiz mit ihren multiprofessionellen Teams, die, entsprechend ihrer Möglichkeiten und Kapazitäten, alle bereit waren, hämato-onkologische Patienten aus der Ukraine aufzunehmen
Und last but not least leisten die Schweizer Elternorganisationen «Kinderkrebshilfe Schweiz», «Kinderkrebs Schweiz» und «Zoé4life» wie auch verschiedene private Initiativen einen unschätzbaren Beitrag in der direkten Unterstützung der Familien wie auch in der Finanzierung der nicht-gedeckten Kosten, z.B. für den Transport in die Schweiz und zum aufnehmenden Zentrum.
Ausblick
Nicht unerwartet hat sich nicht das medizinische Management, sondern die sprachliche Barriere als grösste Herausforderung herausgestellt. Ein guter Dolmetscher, eine gute Dolmetscherin sind dementsprechend der Schlüssel im Kontakt mit den Familien.
Da praktisch alle Patienten und Angehörigen ein Smart Phone haben, gelingt der tägliche Austausch ganz gut mit der Unterstützung von google translate. Für vertiefte Gespräche ist allerdings eine kompetente Übersetzung auch längerfristig unerlässlich.
Nach der ersten Phase der Reetablierung des therapeutischen Settings werden jetzt zunehmend die psychischen Folgen der multiplen Traumatisierungen deutlich. Eine fachkompetente Psycho- und Traumatherapie in Ukrainischer Sprache mit kinder- und jugendpsychologischer Expertise täte jetzt Not. Diese spezifische Kompetenz kann aber bis auf einzelne Ausnahmen an den meisten Zentren zurzeit leider weder angeboten noch finanziert werden.
Die internationale PHO Gemeinschaft hat gehandelt, die globalen PHO Netzwerke mit gebündelten Kräften Unmögliches möglich gemacht. Dennoch, die Grenzen der unlimitierten Aufnahmekapazitäten werden erkennbar. Ein Ende des Krieges ist nicht absehbar, es werden viele weitere Kinder und Jugendliche erkranken und eine angemessene Diagnostik und Betreuung ausserhalb der Ukraine benötigen – die Herausforderungen für uns alle werden auf unbestimmte Zeit bleiben.
Dank
Wir haben nicht tatenlos zugesehen – grosser Dank und Anerkennung an alle, die sich engagieren und beigetragen, sei es persönlich oder im Rahmen einer Organisation, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer hämato-onkologischen Erkrankung und ihren Familien Schutz und medizinische Betreuung in der Schweiz zu ermöglichen!
Jeanette Greiner
Präsidentin SSPHO
Ostschweizer Kinderspital
Zentrum für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie
9006 St. Gallen
jeanette.greiner@kispisg.ch